[Belletristik] Kim Jiyoung, geboren 1982

Wenn ich Bücher lese, die aus einer voll­kom­men ande­ren Kultur stam­men, dann bin ich immer wie­der neu­gie­rig, wie die­se auf mich wir­ken (wobei ich geste­hen muss, dass ich rela­tiv sel­ten sol­che Bücher lese). Wie krass fal­len da die Gegensätze ins Auge. Und wie erstaun­lich die Gemeinsamkeiten.

Die Unterschiede

Das Buch erzählt vom Leben einer süd­ko­rea­ni­schen Frau. Punkt. Mehr nicht. Vor allem zu Beginn des Buchs offen­ba­ren sich die Unterschiede zwi­schen unse­rer bei­der Gesellschaften und der Leser ist geneigt zu sagen, dass die Klischees alle wahr sind. Vollkommen undenk­bar, dass in Deutschland einer Frau die Schuld gege­ben wird, weil ihr unge­bo­re­nes Kind das fal­sche Geschlecht hat. Oder dass die unge­bo­re­ne Tochter abge­trie­ben wird, weil schon zwei Töchter in der Familie leben. Wie schlimm ist es für eine Frau, wenn in ihr ein Mädchen her­an­wächst, das von ihrer Familie und der Gesellschaft nicht akzep­tiert wird?

Große Schulen ken­nen wir auch in Deutschland. In den Großstädten wer­den durch­aus Schulen gebaut, die zehn­zü­gig oder mehr sind. Nur mit dem Unterschied, dass nicht noch 50 Kinder, son­dern maxi­mal 35 Schüler in den Klassen sind. Wieder ein bestä­tig­tes Klischee.

Im wei­te­ren Verlauf des Buchs kann der Leser fast den Eindruck gewin­nen, als wären alle Südkoreaner not­geil, wenn Mädchen in der Schule und der Öffentlichkeit per­ma­nent begrapscht wer­den. Und wenn sich die Mädchen Hilfe suchend an ihre Eltern wen­den, die­se dort geschol­ten und bestraft wer­den, nur um dann mit sol­chen Sätzen abge­speist zu wer­den:

»Du bist selbst dar­an schuld, weil du dich nicht an die Regeln gehal­ten hast!« (bei 32% des E‑Books)

Das geht schon in die Richtung, dass Frauen (und Mädchen) selbst Schuld tra­gen, wenn sie ver­ge­wal­tigt wer­den.

Und wie fort­schritt­lich ist doch Deutschland hin­sicht­lich des Frauenanteils der Beschäftigten, der in Südkorea bei unter 30% liegt und hin­sicht­lich des Lohngefälles zwi­schen Mann und Frau, das in Südkorea am größ­ten ist. Oder etwa doch nicht?

Die Gemeinsamkeiten

Wo doch so gro­ße kul­tu­rel­le Unterschiede zwi­schen Südkorea und Deutschland in dem Buch offen­bart wer­den, so über­ra­schend pop­pen Gemeinsamkeiten auf, wie zum Beispiel, wenn die Frage im Raum steht, ob die Frau hin­sicht­lich der Kindererziehung zu Hause bleibt oder nicht.

»Aber du soll­test wis­sen, war­um ich zur Arbeit gehe. Ich tue das nicht, weil du von mir ver­langst, dass ich Geld ver­die­ne, son­dern weil mich der Job erfüllt. Er gefällt mir […]« (bei 72% des E‑Books)

Genauso den­ken auch euro­päi­sche Frauen. Im Zuge die­ser Betrachtung zeigt sich eine zwei­te Gemeinsamkeit zwi­schen Korea und Deutschland. Wenn es um die Frage geht, wer in den ers­ten Monaten zu Hause bleibt, um das Kind zu ver­sor­gen, so ist es (fast) immer die Mutter. Die Männer ver­die­nen mehr als die Frauen und sit­zen oft­mals auch in den kri­sen­si­che­ren Jobs. Wenigstens gibt es in Deutschland Mutterschutzgesetze, die eine Rückkehr in den Job ver­ein­fa­chen. Die Autorin zeigt, wie es sich aus­wirkt, wenn eine Frau ohne Sicherheiten ihren Job kün­di­gen muss, wenn sie sich um den Nachwuchs küm­mern muss. Und so dürf­te auch vie­len deut­schen Frauen die­ser Satz aus der Seele spre­chen:

»Sowenig man sei­ne Kinder aus man­geln­der Liebe in die Obhut eines ande­ren gibt, um selbst arbei­ten zu kön­nen, sowe­nig über­nimmt man zu Hause die Kindererziehung, weil man sei­nen Beruf nicht ger­ne aus­übt.« (bei 77% des E‑Books)

Fazit

Es ist ein­fach nur ein Buch über das Leben einer süd­ko­rea­ni­schen Frau. Ein Buch, in dem ich gera­de zu Beginn vie­le Klischees bestä­tigt sah. Doch nach und nach zeig­ten sich die Gemeinsamkeiten und es wur­de klar, wie ähn­lich die Auswirkungen die­ser bei­den unter­schied­li­chen Kulturkreise dann doch sein kön­nen. Wieviel Wahrheit liegt in einem sol­chen Satz:

»[…] wie schwie­rig es für eine Frau – zumal mit Kindern – in die­sem Land ist, ein erfüll­tes Leben zu füh­ren.« (bei 90% des E‑Books)

buchcover kim jiyoung

Titel: Kim Jiyoung, gebo­ren 1982
Autor: Nam-joo, Cho
Genre: Belletristik
Seitenzahl: 208
Verlag: Kiepenheuer & Witsch

5/5

Originaltitel: 82년생 김지영
Übersetzer: Ki-Hyang Lee
Herkunft: Republik Korea (Südkorea)
Jahr: 2016 / 2021 (org./dt.)

Dieses Buch wur­de mir freund­li­cher­wei­se vom Verlag zur Verfügung gestellt. Weitere Hinweise zu Rezensionsexemplaren fin­det sich auf der Verlagsübersichtsseite.

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3 Kommentare

  1. Ich habe das Buch auch erhal­ten und gele­sen. Aber ich fin­de nicht, dass es einen gro­ßen kul­tu­rel­len Unterschied gibt. Das macht das Buch ja zu so etwas Besonderem, dass es qua­si über­all auf der Welt spie­len könn­te (Kleinigkeiten wie Größe von Schulen sind abso­lut neb­säch­lich), der Name der Frau (ihre Haarfarbe, ihr Alter, ihr Job, …) ist aus­tausch­bar. Ich hat­te das Gefühl, die Autorin hat Zeitungsartikel anein­an­der­ge­reiht, die mich mein Leben über beglei­tet haben. Wenn Du glaubst, das sei hier nicht der Fall (gewe­sen), auch in Auszügen, muss ich Dir lei­der mit­tei­len, dass Du irrst. Es hat sich lei­der erst in den letz­ten Jahren etwas geän­dert, wenn es auch jetzt mitt­ler­wei­le oft übers Ziel hin­aus­schießt. Aber auf genau sol­che Dinge, die offen­bar nur von einem Teil der Gesellschaft wahr­ge­nom­men wer­den *hüs­tel* auf­merk­sam zu machen, hat sie das Buch geschrie­ben.

    1. Hallo Soleil,
      das soll­te eigent­lich “der Clou” mei­nes Reviews sein, dass ich zuerst auf die Unterschiede und dann auf die Gemeinsamkeiten schaue und dann zum Schluss kom­me wie Du. Und allein das Zitat, das ich am Ende mei­ner Rezension auf­füh­re zeigt doch, dass ich genau nicht anneh­me, dass es in Deutschland Frauen leich­ter haben als in Südkorea.
      Wobei ich per­sön­lich sogar noch einen Schritt wei­ter­ge­he und sage, dass es allen Erziehenden in Deutschland schwer­ge­macht wird. Ich kann ergo nicht nach­voll­zie­hen, auf was sich das “Du irrst” bezieht …
      Viele Grüße
      Frank

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