Titel: Vergessene Gesten: 130 Volten gegen den Zeitgeist |
Wer den Titel „Vergessene Gesten“ liest, der direkt über einem Herrn platziert ist, der seinen Hut zieht, der glaubt vielleicht, dass es in diesem Buch tatsächlich darum geht, vom Vergessen bedrohte Gesten dem Leser zu präsentieren und eventuell ein bisschen über dessen Entstehung zu erzählen. Leider weit gefehlt.
Definition
Wer in den Duden schaut, wird für das Wort „Geste“ zwei Bedeutungen finden. Zum einen eine „spontane oder bewusst eingesetzte Bewegung des Körpers, besonders der Hände und des Kopfes, die jemandes Worte begleitet oder ersetzt“ und zum anderen eine „Handlung oder Mitteilung, die etwas indirekt ausdrücken soll“ [1].
Insofern passt es schon, dass sich in diesem Buch beiderlei Arten von Gesten wiederfinden, auch wenn viele Handlungen ich nicht als Geste empfinde, so wie z.B. ein Hobby haben, in die Natur gehen oder das Schwimmen erlernen. Nun könnte man ja sagen, dass es durchaus okay ist, wenn der Autor nicht nur auf vergessene Gesten schaut (wie das Ziehen des Huts), sondern auch auf vergessene Gewohnheiten.
Die Zusammenstellung der vergessenen Gesten (ich bleibe mal bei dem Sammelbegriff) ist schon recht fragwürdig. Aber die Präsentation ist recht einfach, undifferentiert und zum Teil schlichtweg falsch. Oftmals hatte ich als Leser den Eindruck, als würde hier ein „Früher-war-alles-besser“-Mensch der Vergangenheit nachtrauern, die vermeintlich so viel besser gewesen sein soll.
Irrtümer
Wie falsch diese Einstellung und auch die Behauptungen in dem Buch sind, verdeutliche ich exemplarisch, am Beispiel des „Den Freischwimmer absolvieren“.
Hier wirft der Autor den heutigen Kindern vor, dass sich nicht mehr schwimmen lernen, sondern nur noch in Freizeitparks zu passiven Fett- und Zucker-Konsumenten verkommen. Als Beweis sagt er, dass es 2017 mehr als 400 Todesfälle durch ertrinken gab, weil ja niemand mehr schwimmen lernt.
Nun, das mag viel klingen. Und ja, da hat der Autor Recht. 2017 starben tatsächlich 404 Menschen durch Ertrinken. Allerdings irrt er sich, dass die Zahl in der Neuzeit gestiegen ist. Genau das Gegenteil ist der Fall. 1926 gab es 3552 Todesfälle durch Ertrinken, 1951 waren es noch 2105 bis die Zahl immer weiter sinkt und sich nun in den letzten Jahren irgendwo zwischen 400 und 500 eingependelt hat.
Die Aussage, dass heutzutage die Kinder keinen Freischwimmer mehr machen und sich auch keine Abzeichen mehr erschwimmen ist schlichtweg falsch. Ich weiß ja nicht, in welchem Teil von Deutschland der Autor lebt und woher er seine Erkenntnis nimmt, aber diese Aussage ist schlichtweg falsch, denn heutzutage machen die Kinder noch immer ihr Seepferdchen und erschwimmen sich Bronze, Silber und Gold. Letzteres natürlich, wenn sie möchten, das Seepferdchen ist aber schon obligatorisch.
Und so ziehen sich die Irrtümer durch das ganze Buch, in dem der Autor das Waldsterben ebenso verneint wie den Klimawandel (also generell, nicht nur den antropogenen), behauptet, dass keine Kaffee mehr gemahlen wird und Daten nicht mehr glöscht werden, weil der Computer ein Mal zu viel fragt, ob die Daten denn wirklich gelöscht werden sollen.
Fazit
Leider wird in kaum einem angeführten Beispiel erklärt, wo eine Geste, eine Handlung oder Gewohnheit ihren Ursprung hatte und wie es zum Vergessen kam. Es findet sich überhaupt kein Tiefgang und keine Wissensvermittlung in dem Buch, sondern einfach nur eine Ansammlung von oftmals haltlosen Behauptungen, die jeglicher Grundlage entbehren. Ich schreibe sowas ja selten, aber dieses Buch ist das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt ist.
Zugleich wird deutlich, wie schnell eine Falschaussage getätigt werden kann und wie viel Aufwand es bedarf, um diese zu entkräften.
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