[Tagebuch] Ihr wisst nicht, was Krieg ist

Ich kann mich noch gut an ein Museum in Nürnberg erinnern, in dem die Besucher in unterirdische Höhlen bzw. Keller gingen, um dort zu erfahren, wie es war, als die Bewohner im Zweiten Weltkrieg dort Zuflucht vor den Bomberangriffen fanden. Das Besondere an diesem Museum war eine Lautsprecherinstallation, über die simuliert wurde, mit welchen Geräuschen die Menschen damals konfrontiert wurden. Mit dabei waren damals zwei unserer Kinder im Alter von vielleicht drei oder vier Jahren. Zuerst fanden sie es noch spannend, aber dann spürten sie die Beklemmung und die Bedrohung dieser Situation. Trotz guten Zuredens von uns Eltern konnten sie ihre Panik nicht ablegen und wir mussten aus der Ausstellung herausgehen. Ein Luxus, den Yeva Skalietska von heut auf morgen nicht mehr hatte. Mir kam diese Panik meiner kleinen Kinder direkt in den Sinn, als die damals Zwölfjährige vom Beginn des Angriffskrieges Russlands am 24. Februar 2022 berichtete. Ja, wir wissen nicht, wie es ist, wenn vor unserer Haustüre ein Krieg ausbricht und wir uns mit unserer Familie plötzlich in einem Krieg befinden. Eine Erfahrung, um die ich Yeva Skalietska überhaupt nicht beneide.

Vor allem für Kinder kam der Krieg überraschend. Wie mussten sie sich fühlen, abends wie immer ins Bett zu gehen, nur um am nächsten Morgen oder gar in der Nacht vom Lärm explodierender Bomben geweckt zu werden. Die 12-jährige Yeva Skalietska hat vom ersten Tag an ein Kriegstagebuch geführt, auf das im Laufe ihrer Flucht ein Fernsehteam aufmerksam wurde. Seither wurde dieses in den sozialen Medien verbreitet und der Leser bekam einen Einblick in die Gefühlswelt eines Kindes, das in Charkiw vor dem Krieg ein normales Leben führte.

Nur kurz erzählt sie zu Beginn von ihrem normalen Leben, als sie von ihrem 12. Geburtstag am 14.02. erzählt. Eine Normalität, die abrupt am 24.02. endete.

Ich habe ja schon davon gehört und gelesen, wie Kinder in einem Krieg stecken, aber ich konnte es mir noch nie so richtig vorstellen. Jetzt, nach fünf Stunden in einem Keller, ist das anders. 14%

Ich frage Oma: »Was ist mit unseren Sachen?«
Und sie sagt: »Die müssen wir zurücklassen. Unser Leben ist wichtiger!« 17%

Vor allem in den Wirren der ersten Tage merkt man die Verunsicherung des Mädchens. Kein Wunder, denn ich kenne in meinem Bekanntenkreis selbst Menschen, die ihre Koffer packten, weil sie dachten, der Krieg würde sehr schnell nach Deutschland rüberschwappen. Wie müssen sich erst diejenigen fühlen, die live dabei waren, als Russland in mehrfacher Hinsicht begann, Grenzen zu überschreiten, in dem die russischen Truppen begannen, gezielt die Zivilbevölkerung zu treffen.

Die Dinge selbst sind mir nicht so wichtig, aber sie waren ein Teil von meiner Kindheit! Ich habe das Gefühl, jetzt ist sie auch zersprengt. 32%

Der Leser erfährt von der Flucht von Yeva Skalietska und davon, wie sie dem Wechselbad der Gefühle ausgeliefert ist. Auf der einen Seite freut sie sich, dass ihre Flucht geglückt ist und erlebt auf der Flucht und schlussendlich in Irland viele schöne Momente. Auf der anderen Seite kochen immer wieder Gefühle der Trauer, Angst und Wut in ihr hoch.

Ich schäme mich, zuzugeben, dass ich kein Zuhause habe. Seit wir aus unserer Wohnung in den Keller gezogen sind, kann ich diesen Gedanken nicht ertragen. (75%)

Den Tagebucheinträgen sind jeweils Meldungen aus den Nachrichten hinzugefügt worden. Außerdem gibt es zahlreiche Anmerkungen zu Details, die der vom Krieg nicht betroffene Leser nicht weiß. Mit einigen Schwarz-Weiß-Fotos wird der geschriebene Text untermalt und verdeutlicht in vielerlei Hinsicht die Einträge. Zum Ende werden die Erlebnisse einiger ihrer Freunde in Kurzform abgedruckt, die zeigen, wie unterschiedlich die Fluchtwege aussahen (und aussehen), am Ende aber doch immer die gleiche Sehnsucht nach Freiheit und ihrer Heimat steht.

Fazit

Ja, ich weiß nicht, wie es ist, einen Krieg zu erleben und vor ihm zu fliehen. Und ich bin sehr dankbar, dass ich dies nicht erfahren muss. Umso mehr tut es mir leid, dass eine ganze Nation unter den Wirren eines fehlgeleiteten Menschen leiden muss. Alle Kriege sind sinnlos, aber für den Krieg in der Ukraine gilt das insbesondere. Yeva Skalietska gibt den Lesern einen Einblick, wie Kinder aus ihrer Normalität gerissen werden und welche Gefühlsaufwallungen sie erleben mussten.

cover

Titel: Ihr wisst nicht, was Krieg ist: Tagebuch eines jungen Mädchens aus der Ukraine
Autor: Yeva, Skalietska
Genre: Kriegstagebuch
Seitenzahl: 192
Verlag: Knaur

5/5

Originaltitel: You Don’t Know What War Is
Übersetzer: Alexandra Berlina
Herkunft: England
Jahr: 2022 / 2023 (org./dt.)

Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt. Weitere Hinweise zu Rezensionsexemplaren finden sich im Bereich “Über diesen Blog“.

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