[Ratgeber] Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.

Raúl Krauthausen ist ein bekannter Aktivist, der sich u.a. für die Belange behinderter Menschen einsetzt. Nach eigenen Angaben war es ihm ein besonderes Anliegen, ein Buch über das wichtige Thema Inklusion (in Deutschland) zu schreiben.

Um dem Leser und der Leserin das Thema näherzubringen, wurde das Buch in drei Teile gegliedert. Der erste Teil widmet sich hauptsächlich der Begriffserklärung. Nicht jeder weiß Begriffe die Inklusion, Integration, Ableismus oder strukturelle Benachteiligung in den richtigen Kontext zu bringen. Neben den Begriffserklärungen gibt der Autor an, wie er die Begriffe versteht.

Der zweite Teil ist in meinen Augen der »Hauptteil«, in dem er aufzeigt, wo er Verbesserungspotential sieht. Um es mal nett auszudrücken. Deutschland hat eben in vielen Bereichen Nachholbedarf. Am Ende der jeweiligen Kapitel listet er Punkte auf, die er als »Erkenntnisse und mögliche Ansätze für die Zukunft« bezeichnet. Dies sind Punkte, die ganz konkret Missstände beheben können, die er zuvor ausführlich beleuchtet hat. Es bleibt nicht aus, dass er massive Kritik an den unterschiedlichen Formen der Diskriminierung, Benachteiligung oder Ungleichbehandlung ausspricht.

Der Autor gibt in dem Buch nicht nur seine eigene Meinung kund, sondern hat zahlreiche Interviewpartner eingeladen, sich mit ihm auszutauschen.  Ein geschickt gewählter „Schachzug“, der dazu führt, dass ich als Leser besser sehe, dass es nicht nur eine Einzelperson ist, die hier meckert, sondern dass unsere Gesellschaft erheblichen Nachholbedarf in Sachen Inklusion hat. (Und nicht nur dort, aber das ist ein anderes Thema).

Das knappe Kapitel über sexuelle Erfahrungen und Selbstbestimmung fand ich in diesem Buch etwas deplatziert. Ja, es ist wichtig, dass behinderte Menschen nicht als asexuelle Wesen wahrgenommen werden und die Bedürfnisse aller Menschen ernstgenommen werden müssen. Aber das hat nur bedingt etwas mit Inklusion zu tun. Auch die Darstellung der Behinderten in der Kunst hat sich in den letzten Jahren spürbar gewandelt. Die Beispiele die Raúl Krauthausen anführt, stimmen natürlich alle in dieser Form, aber es gibt mittlerweile sehr viele (gute) Gegenbeispiele (u.a. solche Filme).

Fazit

Ein Leitsatz des Autors lautet »nichts über uns ohne uns«. Der ist nicht neu, aber deshalb nicht weniger wahr. An vielen Stellen werden behinderte Menschen jeglicher Couleur ausgegrenzt. Jeder Nicht-Betroffene sollte sich eingeladen fühlen, jemanden Gehör zu verschaffen, die Missstände in Deutschland hinsichtlich Inklusion sichtbar zu machen.

Folgend die Interviewpartner des Autors, der selbst ebenfalls einen eigenen Blog führt. Die Links, soweit vorhanden, sind allsamt unbezahlte Infolinks. Gehören Interviewpartner zu einer Institution, so habe ich nur die erste Person entsprechend verlinkt.

wer inklusion will findet einen weg

Titel: Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.
Autor: Krauthausen, Raúl
Genre: Ratgeber
Seitenzahl: 240
Verlag: Rowohlt Verlag

5/5

Herkunft: Deutschland
Jahr: 2023

Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt (das Buch auf den Seiten des Verlags (unbezahlter Info-Link)). Weitere Hinweise zu Rezensionsexemplaren finden sich im Bereich „Über diesen Blog„.

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Ich selbst bin zwar kein Aktivist oder »Berufsbehinderter«, blogge aber selbst über meine Behinderung auf meinem Schwesterblog. Dennoch ist es mir ein Anliegen, meine persönliche Meinung hier zu präsentieren. Vermutlich werde ich zu dem ein oder anderen Thema zu gegebener Zeit einen eigenen Beitrag schreiben.

Schade, dass sich in dem Buch das Wort „Ladesäule“ nicht findet. Hier gibt es nämlich die nächste Gedankenlosigkeit und damit Diskriminierung. Die Ladesäulen für E-Autos sind für gewöhnlich nicht barrierefrei ausgeführt. Ich frage mich natürlich so oder so, weshalb in der EU die Verbrenner (die nicht CO2 neutral arbeiten) verboten werden, wenn die geeignete Ladestruktur nicht vorhanden ist. Es muss doch jeder Parkplatz mit einem Ladekabel versehen werden, bevor ich mir ein E-Auto kaufen kann. Daran ist es nämlich bei uns beim letzten Autokauf gescheitert. Wie haben als Mieter in der Großstadt keine Möglichkeit, ein E-Auto aufzuladen.

Folgend einige Zitate aus dem Buch, garniert mit meinen Erfahrungen.

Als nichtbehinderter Mensch kann man sich schwer vorstellen, wie es ist, als Rollstuhlfahrer an den Stufen einer Kneipe zu verzweifeln, in die man mit den Kolleg*innen spontan nach der Arbeit einkehren wollte.“ (bei 15% des Buchs)

Oh ja, was kann ich davon ein Lied singen. Und wenn man dann mal eine Kneipe gefunden, in die man reinkommt, muss ich immer wieder feststellen, dass ein WC fehlt. Toll!

Eigentlich profitieren doch alle Menschen gleichermaßen von diesen Anpassungen.“ (von Raúl bei 18%, es geht um bauliche Barrierefreiheit) 

Das ist mir auch schon oft aufgefallen, dass nicht-behinderte Menschen gerne die Angebote nutzen, die für behinderte Menschen gedacht sind. Es geht sich eben eine Rampe besser hoch als Treppen.

Aber behinderte oder verhaltensauffällige Kinder in Förderschulen auszusondern, schützt nicht die Betroffenen, sondern nur die Mehrheitsgesellschaft, die sich dann nicht mit ihnen auseinandersetzen muss.“ (bei 29%)

Ja, das ist wohl so, dass viele Menschen sich schwer damit tun, Behinderte überhaupt in ihrer Nähe zu haben. Klingt erschreckend, ist aber so.

Behinderte Menschen leben zwangsläufig ein Leben, das sich nicht-behinderte nicht vorstellen können. Ich selbst bin der Meinung, dass nicht-behinderte nicht permanent darauf aufmerksam gemacht werden müssen, dass es Behinderte gibt. Wer dieses Buch liest, wird eventuell schnell überfrachtet mit Fachbegriffen aus der Inklusion, so dass ihm der Kopf anfängt zu rauchen.

In diesem Fall empfehle ich das Buch beiseitezulegen, um sich den Kapiteln häppchenweise zu nähern. Es kommt hinzu, dass versucht wurde, das Buch genderneutral zu schreiben. Damit haben bekanntlich manche Leser oder Leserinnen so ihre Probleme. Wenn dann noch weitere künstlich erzeugte Merkmale wie cis Frauen und cis Männer hinzukommen, denken viele an Rechtschreibfehler. In diesem Fall sollte der Leser oder die Leserin dem Lektorat des Verlags vertrauen und ggf. einen Blick in das Glossar am Ende des Buchs werfen.

Wenig überraschend nimmt das Thema Schule einen großen Teil ein. Nicht nur, in dem das derzeitige Schulsystem in eigenen Kapiteln beleuchtet wird, sondern auch wiederkehrend in den anderen Kapiteln. Wenn ich bedenke, wie meine Kinder beschult werden und wie mich dies an meine eigene Kindheit erinnert, dann wird allein schon dadurch sehr deutlich, dass das Schulsystem grundlegend angepackt werden muss.

Da rede ich davon, dass in NRW das Bildungssystem immer schon etwas anders war (man denke an das NRW-Abi, das in anderen Bundesländern keine Anerkennung fand) und dass die Rektoren der Gymnasien auf die Barrikaden stiegen, weil Schüler nach einem Losverfahren auf die Schulen Kölns verteilt wurden. Ich rede davon, wie traumatisiert Kinder sein müssen, die an vielen Schulen abgelehnt wurden und dann irgendwo in die Randgebiete der Stadt in die Schule gehen müssen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie weit entfernt wir im Bildungssystem davon sind, von einer echten Inklusion zu sprechen.

Es ist verständlich, dass die Eltern auf die Barrikaden steigen, wenn ihnen vermittelt wird, dass ein inklusiver Unterricht bedeutet, dass ein schwerst-mehrfach behindertes Kind in eine Klasse der Regelschule gesteckt wird und dann dort genau das gleiche leisten muss, wie nicht behinderte Kinder. Nein, dies ist keine Inklusion. Das ist die Integration von behinderten Kindern, die in dieser Form nicht funktioniert. Deshalb rufen sehr, sehr viele Betroffene dazu auf, das derzeitige Schulsystem in Gänze zu reformieren. Viele praktisch umsetzbare Anregungen finden sich in diesem Buch, wobei diese nicht auf der alleinigen Meinung des Autors basieren, sondern dieser sich Hilfe von zahlreichen Experten und Expertinnen gesucht hat, die in diesem Buch zu Wort kommen.

Wenn Raúl Krauthausen über seine Erfahrungen im BIZ (Berufsinformationszentrum) schreibt, dann war ihm die Erfahrung so hängen geblieben: »Während meine Mitschüler*innen über spannende Berufsfelder aufgeklärt wurden, musste ich diesem Mann in einen separaten Raum folgen.« Sorry, aber Deine Mitschüler wurden nicht aufgeklärt, sondern sie wurden dazu gedrängt unabhängig von ihren Interessen, Ausbildungsberufe anzustreben. Für eine gymnasiale 10. Klasse (ja, wir hatten das in der 10. und nicht in der 9.), in der fast alle studieren wollten, und für die es eh zu spät war, nach der 10. Klasse eine Ausbildung zu beginnen, weil die Bewegungsfristen längst abgelaufen waren, ein trauriges Armutszeugnis. Nun Raúl Krauthausen spricht in diesem Kapitel natürlich seine erste Begegnung mit den Behindertenwerkstätten an. Der Autor ist ein Gegner dieser Einrichtungen und erläutert seinen Standpunkt in dem Buch sehr ausführlich.

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